"Angst hebe ich mir für später auf!"
Ein mutiges Gespräch.

Wir tauchen ein in ein neues Lebensraum-Magazin mit dem Titel „NUR MUT“. Hier treffen Deutschlands erfolgreichste Apnoetaucherin Anna von Boetticher und Reinhold Knodel, Inhaber der PANDION AG sowie passionierter Sportler und Privatpilot, aufeinander und sprechen über Risiko, Mut und Angst in ihrem Leben. Wir lernen, wie sie in extremen Situationen die Ruhe bewahren und die eigenen Ängste überwinden.

Beginnen wir mit einer Frage an Sie beide:
Wie definieren Sie Mut?

Anna von Boetticher (AvB): Eigentlich kann ich Mut gar nicht so richtig fassen, denn ich sehe so viele verschiedene Arten von Mut. In den kleinen Alltagssituationen, wenn man sich zum Beispiel nicht traut, jeman-den anzusprechen und es mit bewusster Überwindung trotzdem tut. Und dann gibt es die Augenblicke, in denen man aufsteht und sagt, wofür man eintritt, auch wenn das riskant ist. Diese Form der Zivilcourage ist für mich am bedeutungsvollsten, weil es um wirklich wichtige gesellschaftliche und zwischenmenschliche Themen geht.

Reinhold Knodel (RK): Ja, da bin ich bei Ihnen. Für mich bedeutet Mut, eine vielleicht vorhandene Angst zu überwinden. Und deshalb, liebe Frau von Boetticher: Wenn Sie mit Haien oder Rochen tauchen oder sich zu einem Krokodil ins Wasser legen (Anmerkung: In der mehrteiligen NDR-Dokureihe „Waterwoman“ trifft Anna von Boetticher unter Wasser auf diese Tie-re), dann ist das in meinen Augen deutlich mutiger, als sich überwinden zu müssen, jemanden anzusprechen.

AvB: Ja, vieles an Mut ist relativ. Aber glauben Sie mir, ich würde nie mein Leben riskieren. Das wäre sonst Dummheit. Bei den Aufnahmen mit dem Krokodil war immer ein Guide dabei, der kannte die Situation und hätte notfalls eingegriffen. Deshalb war das Risiko für mich überschaubar.

RK: Vielleicht kommt Ihnen das ja nicht so mutig vor, weil Sie das Risiko gar nicht als solches gesehen haben. Oder das Risiko genau einschätzen konnten und wussten, was Sie tun und wie Sie sich verhalten müssen.

AvB: Das stimmt, das Wissen über das, was ich tue, ist essenziell. Es minimiert das Risiko. Ich muss mich zu jeder Zeit auf mich selbst, meine Fähigkeiten und das Team verlassen können, das mich bei meinen Tauchgängen unterstützt. Das Wichtigste ist, dass ich auch in kritischen Situationen Ruhe bewahren kann. Oft setze ich mich ja bewusst dem Ungewissen aus, an unbekannten Orten oder in den Tiefen des Ozeans. Und wenn da etwas schiefgeht und ich ein Problem lösen muss, bevor ich wieder atmen kann, dann sind Wissen und jahrelanges Training enorm wichtig. Aber das ist doch in der Fliegerei nicht anders, oder?

RK: Ja, absolut. In der Ausbildung wird man zwar darauf geschult, erst gar nicht in schwierige Situationen zu kommen. Gerät man dann doch in eine Krise, etwa wenn ein Triebwerk ausfällt, muss man sich zu 100 Prozent darauf konzentrieren, fokussiert sein Wissen abzurufen, um das Risiko zu managen. Gedanken daran, was in einer solchen Situation passieren könnte, sind nur hinderlich. Die meisten Flugunfälle passieren, weil Pilot*innen im Cockpit in einer Ausnahmesituation in Panik geraten und dann eben nicht das Richtige tun.





Mut ist keine bewusste Entscheidung. Man begreift erst im Nachhinein, dass man über sich selbst hinausgewachsen ist.

Anna von Boetticher



Panik bedeutet, Angst besonders intensiv – auch körperlich – zu erleben.
Wie verhindern Sie solche Situationen?

AvB: Ich werde oft gefragt, wie es denn sein kann, dass ich in kritischen Situationen unter Wasser keine Angst empfinde. Ich antworte dann: Ich hebe mir die Angst für später auf. In über drei Jahrzehnten, in unzähligen Trainings, in sehr vielen Ausbildungssituationen, auch als technische Taucherin, habe ich diese Fähigkeit entwickelt, mich in einer Krise nicht mit meiner Angst zu beschäftigen, sondern ausschließlich mit der Lösung des akuten Problems. Die Panik kann dich umbringen. Das bedeutet nicht, dass nicht irgendein Teil von mir die Aufregung spürt oder dass heftig Adrenalin ausgeschüttet wird.

AvB: Mein Job ist es, diese Prozesse in diesem Moment zu ignorieren und die Angst nicht das Handeln dominieren zu lassen. Ich bin mir des Problems, vielleicht sogar der Lebensgefahr, dennoch in jeder Sekunde bewusst.

RK: Ich hatte einmal eine Situation beim Skilaufen, vor über 20 Jahren. Ich war Off-road unterwegs, also abseits viel befahrener Pisten, und entschied mich, eine Rinne zu fahren (Anmerkung der Redaktion: ein für Skifahrer*innen anspruchsvoller und von Felsen begrenzter Steilhang). Das Gefühl ist unbeschreiblich, man fühlt sich nie lebendiger. Man braucht hundertprozentige Konzentration, um dort heil durchzukommen. Gerade als ich in die Rinne einfuhr, sah ich unten im Tal einen Rettungshelikopter, der einen gestürzten Fahrer abtransportierte – und war mit einem Mal abgelenkt. Ich dachte, der Fahrer sei tot. Meine Knie begannen zu zittern und ich bekam Angst. Unweigerlich bin ich gestürzt. Dabei hatte ich riesengroßes Glück, denn trotz der unvorstellbaren Wucht des Aufpralls blieb ich unverletzt. Am nächsten Tag, nachdem ich den Schock verwunden hatte, bin ich mit höchstem Respekt und ohne Angst noch einmal die Rinne gefahren – und hatte keine Probleme.

AvB: Weil Sie dann die richtige mentale Vorbereitung hatten.

RK: Genau. Die professionelle Vorbereitung gibt die Handlungssicherheit. Das gilt auch in der Luft. Eine wichtige Regel, die man hier immer und immer wiederholen muss, lautet: Vertraue deinen Instrumenten, nicht deinem Instinkt!

AvB: Noch eine Parallele zur Taucherei. Mir ist es schon passiert, dass ich mit einer Gruppe auf einem Nachttauchgang unterwegs war und plötzlich das intensive Gefühl hatte, in die falsche Richtung, also weg vom Schiff, zu schwimmen. „Mit deinem Kompass stimmt etwas nicht“, war mein erster Gedanke. Ich war mir ganz sicher, mein Instinkt wollte mich leiten. Aber dann habe ich mir das Gelernte nach vorne geholt und wie ein Mantra wiederholt: „Der Kompass hat recht, der Kompass hat recht, das Schiff liegt vor dir.“ Und so war es dann auch. Eine solche Lektion vergisst man nie.

Glauben Sie daran, dass man solche Situationen wie eben geschildert durch gute Vorbereitung oder mentales Training ganz verhindern kann?

AvB: Als Taucher*in gibt es eigentlich keinen rationalen Grund, einen schweren Unfall zu haben. Man ist immer gut gesichert und die meisten Situationen sind lösbar. Deshalb liegt die Konzentration darauf, den Geist darin auszubilden, die innere Ruhe zu bewahren und nicht zu reagieren, wie es der Instinkt will. Also beispielsweise schneller zu schwimmen, um schneller nach oben zu kommen.

Wenn Sie als Apnoetaucherin am Seil in die Tiefe tauchen, wie erleben Sie das selbst?

AvB: Auf dem Weg nach unten brauche ich meine ganze Konzentration dafür, den steigenden Wasserdruck auszugleichen. Damit mein Trommelfell und meine Lunge das unbeschadet überstehen, muss ich komplett entspannt und trotzdem hoch fokussiert sein. Dann komme ich unten an – und bin ganz allein.

Und dann?

AvB: Ich genieße das Erlebnis, als kleiner Mensch in diesem riesigen Ozean zu sein, in 100 Metern Tiefe, nur mit der Luft in meiner Lunge. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich atmen muss. Um mich herum herrscht eine totale Stille.

RK: Faszinierend, wie Sie das schildern. Für mich als Piloten gab es einen ähnlichen besonderen Moment, allerdings nur einmal, und zwar als ich zum ersten Mal auf der Startbahn in einem Flieger saß und wusste: Jetzt fliegst du gleich zum ersten Mal komplett allein. Du bist trotz aller Vorkehrungen da oben ganz auf dich gestellt. Man hat so viel Wissen angesammelt, ein Gespür für das Fliegen entwickelt. Und dennoch … meine Anspannung war so groß wie kaum jemals zuvor. Der erste Alleinflug war etwas ganz Besonderes, das nicht so schnell in Vergessenheit gerät.

Ich fühle mich da lebendig, wo ich voll gefordert bin.

Reinhold Knodel, CEO PANDION AG

Herr Knodel, kennen Sie das auch im unternehmerischen Alltag, die Kontrolle über eine kritische Situation und die Ruhe bewahren zu müssen?

RK: Ja, das derzeitige Marktumfeld ist sehr besonders, etwas Vergleichbares gab es bisher noch nicht. Ich habe zwar grundsätzlich das Vertrauen, dass wir durch diese Immobilienkrise durchkommen. Aber wir sind eben auch abhängig von externen Faktoren, die wir nicht beeinflussen können. Die muss man im Auge behalten und in seine Überlegungen miteinbeziehen in einer solchen Situation, die darf man auf keinen Fall ignorieren. Aber irgendwann muss man auch hier sagen: Jetzt konzentriere ich mich nicht mehr auf das Problem, sondern auf die Lösung.

Welche Rolle spielt Mut dabei?

RK: Wenn wir uns die PANDION Produkte der Vergangenheit anschauen, so ist ablesbar, dass wir uns hier und da an Projekte herangewagt haben, die aus Sicht anderer Marktteilnehmer*innen ein zu hohes Risikoprofil hatten. Das größte Wagnis war sicherlich vor rund 20 Jahren die Entwicklung des „Siebengebirges“ im Kölner Rheinauhafen. Als No-Name haben wir einen alten Kornspeicher unter Denkmalschutz zum Wohnen umgebaut, gegen den Rat der meisten Fachleute, mit einem Verkaufsvolumen von rund 60 Millionen Euro. Das hat geklappt, wir haben damit Geld verdient. Genauso wie Jahre später mit dem Wohnkranhaus. Die Überzeugungsarbeit damals war enorm, aber das hatte auch einen gewissen Reiz.

AvB: Also haben Sie trotz des Risikos schon auch einen Nutzen gesehen?

RK: Ja, Risiko per se ist ja kein Selbstzweck, es muss immer auch ein Nutzen erkennbar sein. In den genannten Fällen war es neben dem potenziellen Gewinn sicherlich auch die Aussicht darauf, etwas Schönes und Dauerhaftes für die Stadt Köln zu schaffen. Quasi als Belohnung für das eingegangene Risiko und die harte Überzeugungsarbeit. Je mehr sich das Unternehmen entwickelt, desto seltener habe ich das Gefühl, ein Risiko einzugehen. Dabei unterscheidet sich meine Wahrnehmung allerdings manchmal von der Außenstehender.

AvB: Man rät Ihnen also oft, das Risiko zu minimieren?

RK: Ehrlich gesagt bin ich manchmal ein bisschen genervt, wenn mir Menschen das sagen. Viel wichtiger ist es doch, die Risiken zu kennen und sie beherrschbar zu machen. Nur so lässt sich auch mal Großes erreichen.

Da sind wir beim Stichwort Motivation. Sie beide brauchen also doch den besonderen Kick?

AvB: Für mich war der Weltrekord an sich keine ausreichende Motivation. Ich bin einfach nicht so gepolt, ich mache das, weil ich Unbekanntes entdecken will, der Drang ist groß. Ich will mehr über mich und die Welt herausfinden, das Tauchen ist nur ein Weg dorthin, ich hätte auch in den Weltraum gehen können. Das Tauchen habe ich einfach nur geliebt.

RK: Da spricht eine große Leidenschaft aus Ihnen! Dieses Gefühl kenne ich ein bisschen. Es macht Spaß, wenn man seine eigenen Grenzen kennt und mental abwägen kann, ob man ein Risiko eingeht oder nicht. Ich persönlich fühle mich eben da lebendig, wo ich voll gefordert bin, alles richtig machen muss und mir keinen Fehler erlauben darf. Und ich weiß inzwischen auch: Die hundertprozentige Komfortzone muss ich nicht immer haben.

Das ist Anna von Boetticher

Anna von Boetticher ist Deutschlands erfolgreichste Apnoetaucherin. Mit 17 Jahren machte die gebürtige Münchenerin ihren ersten Tauchschein und gelangte über verschiedene Stationen im Jahr 2007 zum Apnoetauchen. Apnoe ist griechisch und steht für „nicht atmen“. Apnoetaucher (auch Freitaucher oder Free-diver) nutzen für ihren Tauchgang lediglich den Sauerstoff, den sie vor dem Abtauchen einatmen. Innerhalb kürzester Zeit wurde Anna von Boetticher trotz gesundheitlicher Einschränkungen – sie hat eine besonders kleine Lunge und eine Autoimmunkrankheit – zu einer der weltbesten Freitaucher*innen, stellte nicht weniger als 34 deutsche Rekorde auf und gewann bei Weltmeisterschaften dreimal die Bronzemedaille. Sie kann die Luft 6:12 Minuten lang anhalten und ihr gelang mit 125 Metern der Weltrekord in der Apnoe-Disziplin Tandem No Limits, zusammen mit ihrem Trainer und Tauchpartner Andrea Zuccari. Anna von Boetticher gilt als absolute Expertin für den Tauchsport und die dabei auftretenden mentalen Herausforderungen. Sie berät die tauchenden Einheiten der Marine und arbeitet intensiv mit den Spezialkräften der Kampf-schwimmer*innen und Minentaucher*innen der Bundeswehr. Die NDR-Dokureihe „Waterwoman“ begleitet die Apnoetaucherin bei ihren Wasserabenteuern auf den Azoren, in Mexiko, Deutschland, auf Island oder in Budapest. Die mehrteilige Serie mit erstaunlichen Unterwasseraufnahmen ist in der ARD-Mediathek abrufbar.

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NDR-Dokureihe "Waterwoman"

Direkt in der ARD-Mediathek streamen.

Fotocredits

Daan Verhoeven (Bilder Anna von Boetticher)
Tobias Friedrich (Bilder Anna von Boetticher)
Amelie Peters (Bilder Reinhold Knodel)